Samstag, 3. Dezember 2011
"Clash of civilizations"- ein neorassistischer Theorieansatz?
1.1 Eine Einführung in die Thematik
„Multikulti-Wahn“, „Einwanderungsstop“ oder „Untergang des Abendlandes“ sind Schlagwörter, die in letzter Zeit in der heimischen Medienlandschaft immer mehr Einzug halten. Jedoch auch europaweit lässt sich deutlich erkennen, dass Rechtspopulisten den Schutz der „christlichen europäischen Identität“ höchste Aufmerksamkeit schenken, um gegenüber dem immer „stärker werdenden“ Islam zu bestehen. In der Migrations- und Integrationsdiskussion sind zwei Faktoren immer mehr in den Mittelpunkt gerückt, nämlich die Kultur und die Identität.
Im unlängst erschienenen Buch von Thilo Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“ wird das „Zusammenleben der Kulturen“ als Wunschdenken bezeichnet und heftigst kritisiert. Die Diskussion, bezüglich des Zusammenlebens bzw. des „unmöglichen Zusammenlebens“ verschiedener Kulturen ist jedoch nicht in Folge der letzten Integrationsprobleme aufgekommen, nein diese Diskussion wurde eigentlich schon immer geführt. Nicht nur Thilo Sarrazin oder eingefleischte Rechtspopulisten, wie beispielsweise Gert Wilders in den Niederlanden oder Le Pen in Frankreich, glauben zu wissen warum das Zusammenleben verschiedener Kulturen nicht möglich ist, auch „etablierte“ Sozialwissenschaftler rauben dem Multikulturalismus jegliche Legitimität.
Einer der führenden Ideologen im Kampf gegen den Multikulturalismus ist der 2008 verstorbenen Samuel P. Huntington. In seinem fast 400 Seiten langen Klassiker „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“ unternimmt der Autor einen gewagten und zugleich provokanten Versuch und unterteilt die Welt in sieben bzw. acht unterschiedliche Zivilisationen, die sich nach Huntington´s Hypothese feindselig gegenüberstehen.
"It is my hypothesis that the fundamental source of conflict in this new world will not be primarily ideological or primarily economic. The great divisions among humankind […] will be cultural.“ (Foreign Affairs 1993: 22). Laut Huntington vollzieht sich nicht mehr ein Konflikt zwischen den zwei Ideologien des Kapitalismus und des Kommunismus, sondern die Konflikte entstehen aufgrund Unterschiedlichkeit der „Zivilisationen“, sowie deren Kultur.
1.2 Forschungsfrage und Erkenntnisinteresse
Genau diese von Huntington formulierte Hypothese wird den Ausgangspunkt unserer Fragestellung bilden, um sich in weiterer Folge der Forschungsfrage zu widmen. Es soll klärt werden, ob Huntington´s Annahme, dass es 8 Weltkulturen gibt, die sich kriegerisch gegenüberstehen, als Neorassismus zu bezeichnen ist. Warum diese Fragestellung ein Erkenntnisinteresse hervorruft lässt sich aus folgender Überlegung ableiten.
Die Theorie von Huntington impliziert, Trennlinien und fragmentiert die Weltbevölkerung in einzelnen Kulturen bzw. Zivilisationen. Auf den ersten Blick ist für viele Menschen diese Überlegung eigentlich logisch. Menschen leben nunmal in unterschiedlichen Kulturen. Bei genauerer Betrachtung und einer reflektierten Sichtweise, wie sich Kultur zusammensetzt, sei es mit der Identitätsbildung bis hin zur Kulturhegemonie bei Gramsci, erscheint die Alltagsannahme sowie Huntington´s Hypothese schon nicht mehr so eindeutig. Kulturen und Identitäten sind nämlich komplexe Gebilde die sich aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren zusammensetzen.
Die von Huntington aufgestellte These, dass sich die Konfliktlinien zwischen den Kulturkreisen verlaufen, impliziert auch, dass Kultur ein abgeschlossenes System ist, welches gewisse Charakteristika und Eigenschaften aufweist. So ist laut Huntington die „Islamische Zivilisation“ eher dem Krieg zugeneigt als die „westliche Zivilisation“. Diese Annahme hat als Grundlage einen sehr homogenen und bedeutungszuschreibenden Kulturbegriff, weil wenn A eher zur Gewalt neigt als B, trifft man bereits eine Zuschreibung wie A oder B beschaffen ist. Diese Zuschreibung ist durch aus problematisch und findet sich wieder im Rassendiskurs des 19. und 20. Jahrhunderts. Der von Huntington verwendete Kulturbegriff und die These, dass sich unterschiedliche Kulturkreise feindselig gegenüberstehen, sagt auch, dass eine „Vermischung“ der verschiedenen Kulturen nicht möglich ist. Die Annahme, dass die „Vermischung“ von unterschiedlichen Kulturen zu einem Konflikt führt, impliziert eine „natürliche Unüberbrückbarkeit“ kultureller Differenzen. Diese ähnelt sehr dem rassistischen Diskurs.
Um nun zur Forschungsfrage zu kommen, möchte ich die These von Huntington als „kulturalistischen Rassismus“ bzw. „Neorassismus“ bezeichnen. Die Formulierung der Forschungsfrage ergibt sich aus der soeben aufgestellten These und lautet: „Wenn Huntington vom „Kampf der Kulturen“ spricht, dann bedient er sich einer neorassistischen Theoriebildung und Argumentationsweise?“
1.3 Beschreibung der methodischen Vorgehensweise
Die inhaltliche Fülle und Breite der Thematik zwingt uns zu einer systematische Vorgehensweise, die zuerst eine klare thematische Eingrenzung erforderlich macht. Huntington´s Werk setzt sich mit einer Vielzahl an Fragestellungen auseinander. Weiters muss einem klar sein, dass uns Huntington keine empirisch belegbare Arbeit liefert. Der Autor schreibt selbst: „[... this book is not intended to be a work of social science. It is instead meant to be an interpretation of the evolution of global politics after the Cold War.“ (Huntington 1996: 13) Er sieht es als eine Interpretation an, die jedoch auch von vielen Politikern rezipiert und in weiterer Folge als Grundlage für die Legitimierung von deren Politik verwendet wurde. Daher besitzt dieses Werk auch eine gewisse Macht, die in weiterer Folge kritisch zu hinterfragen ist.
Viele Thesen, wie oben bereits erwähnt, sind sehr allgemein gehalten und könnten mit einer Vielzahl an empirischen abgesicherten Daten widerlegt werden. Um sich allerdings nicht im Dschungel der einzelnen Deutungen Huntington´s zu verlaufen, beschränken wir uns auf ein zentrales Element seiner Arbeit, nämlich den Kulturbegriff bzw. Zivilisationsbegriff. Um überhaupt seinen Kulturbegriff zu klassifizieren, wird eine Erläuterung von Kultur und deren Funktion im neorassistischen Diskurs unabdingbar sein.
Um Huntington´s Theorie mit dem Neorassismus vergleichen zu können, werden die Begriffe des Neorassismus kurz erläutert werden. Der Hauptteil der Arbeit wird sich jedoch mit dem Vergleich der unterschiedlichen Theorien zu Neorassismus und Huntington´s These, dem „Clash of civilizations“ beschäftigen. Da es sich um eine Gegenüberstellung verschiedenen Theorien handelt, wird die Überprüfung der Forschungshypothese, ob Huntington´s Annahme als neorassistisch zu bezeichnen ist, aus dem Vergleich der Theorie des Neorassismus mit der Theorie des „Kampfes der Kulturen“ erfolgen. Um diese Gegenüberstellung durchzuführen muss jedoch zuerst ein theoretisches Grundgerüst gebildet werden.
Theoretischer Ansatz
Wenn man sich mit Kultur beschäftigt muss erwähnt werden, dass wir eine Unzahl an verschiedenen Kulturbegriffen im täglichen Sprachgebrauch verwenden. Einer der meist gemachten Fehler, der vor allem im deutschen Alltagssprachgebrauch vorkommt, ist, dass Kultur mit der „hohen Kultur“ wie Musik und Kunst gleichgesetzt wird. Kultur ist, wie es Rolf Lindner treffend formuliert: „whole way of life“ (Lindner 2002: 73). Das heißt in weiterer Folge, dass Kultur die Lebensformen und Lebensweisen der Menschen beschreibt. Zusätzlich sollte noch betont werden, dass im angelsächsischen Raum das Wort „civilization“ die bevorzugte Ausdrucksweise für „Kultur“ ist. (vgl. Müller 1998: 10).
Um den Begriff von Kultur genauer zu definieren wurden zwei Autoren ausgewählt, die sich mit der Problematik des Kulturbegriffes in Bezug auf Samuel Huntington und des neorassistischen Diskurses auseinandersetzen.
Kulturbegriff bei Harald Müller
Der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Harald Müller definiert Kultur über das zivilisatorische Hexagon von Dieter Senghaas, welches den „Entwicklungsstand der Technik“, „die Wirtschaftsweise“, das „Herrschaftssystem“, „die gesellschaftliche Gliederung“, „das Rechtssystem“ und das „Wertesystem“ zu den ausschlaggebenden Charakteristika einer Zivilisation bzw. Kultur zählen. (vgl. Müller1998: 33). Laut Harald Müller ist davon auszugehen, dass Kultur sich aus den Wechselwirkungen dieser Faktoren zusammensetzt. Durch diese Komplexität und den ständigen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren, die eine Gesellschaft prägen, muss man davon ausgehen, dass Kultur sich ständig verändert. „Kulturen sind in einem ständigen Fluss, sie entwickeln sich und ändern sich sprunghaft […] aus diesem Grund ist es unzulässig, unterschiedliche Kulturen starr gegeneinanderzusetzen und ihre Konfrontation […] voraus zu sagen.“ (Müller 1998: 34).
Nach der Ansicht von Harald Müller begrenzt Huntington die Kultur nur auf das Wertesystem. Das ausschlaggebende und identitätsstiftende Element, stellt bei Huntington die Religion dar. Zusätzlich fügt Müller noch hinzu, dass neben dem von Huntington verwendeten Kulturbegriff auch, die These des „Clash of civilizations“ nicht stimmen kann, da Kulturen bzw. Zivilisationen keine politischen Akteure darstellen. Sie können daher auch nicht in der Weltpolitik agieren, wie beispielsweise Staaten oder militärische Bündnisse. „[...der Kulturkampf [ist] nichts weiter als eine Metapher, sie bezeichnet keine politische Realität“ (Müller 1998: 42)
2.2 Kulturbegriff bei Gerhard Hauck
Um nun jedoch wieder auf die Fragestellung einzugehen, ob die These vom „Clash of civilizations“ als Neorassismus bzw. als kulturalistischer Rassismus zu bezeichnen ist, muss zuerst geklärt werden, warum der Faktor Kultur, Teil der rassistischen Theoriebildung ist.
Gerhard Hauck, Professor für Soziologie an der Universität Heidelberg beschäftigt sich in seinem Buch „Kultur: zur Karriere eines sozialwissenschaftlichen Begriffs“ mit dem Kulturdiskurs. Laut Hauck ist Kultur, fixer Bestandteil eines neuen Rassendiskurses. Eine seiner Hauptthesen ist, dass der Kulturbegriff den Rassenbegriff abgelöst hat. (vgl. Hauck 2006: 8). „Rassenunterschiede“, werden heutzutage nicht mehr verwendet um Menschen auszugrenzen, da diese Theorie in unserer heutigen Gesellschaft als verpönt gilt. Viel mehr wird laut Gerhard Hauck der Begriff der Kultur verwendet um Ausschließungspraktiken gegenüber Minderheiten zu legitimieren. „Rassen-Unterschiede spielen in den offiziellen Diskursen zur Legitimierung von fremdenfeindlichen Politiken kaum noch eine Rolle, umso mehr aber kulturelle“ (Hauck 2006: 8).
Der Rassendiskurs arbeitet somit nicht mehr mit „Rassen“, sondern probiert auf subtile Art und Weise den Begriff der Kultur zu ersetzen und in weitere Folge Kultur als etwas „angeborenes“ und „unüberbrückbares“ anzusehen. Kultur wird definiert, als eine abgeschlossene Einheit, die sich jeglicher Vermischung widerstrebt. In seinem Buch veranschaulicht Gerhard Hauck, die Problematik mit der Annahme, dass Kulturen unveränderbar sind mit folgenden Beispiel: Wären Kulturen starre Konstrukte, so würden sie wie Billardkugeln gegeneinanderprallen und es würde zu einem „Clash of civilizations“ kommen. (vgl. Hauck 2006: 17). Dies ist jedoch nicht der Fall da Kulturen „[...hybride einander überlappende, sich permanent veränderte Gebilde [sind]“ (Hauck 2002: 17)
Funktionsweise des Rassismus in Bezug auf Neorassismus
Bevor wir nun alle Theorien und Begriffsstricke zusammenführen muss noch ein bedeutender Begriff erläutert werden, der die hauptausschlaggebenden Grundlage unserer Hypothese bildet, nämlich der des Neorassismus.
Rassismus ist, wie bereits erwähnt, eine Ausschlusspraxis von gewissen Menschengruppen. Um diese Ausschlusspraxis zu legitimieren bedarf es einer Grundnahme, warum gewisse Menschen mehr wert sind als andere. Vorweg muss noch hinzugefügt werden, dass Kulturen bzw. „Rassen“, die de facto nicht real existieren und etwas vom Menschen erfundenes sind. (vgl. Hobsbawm 1983: 13f.).
Robert Miles beschreibt die Funktion von Rassismus folgend: „Status und Herkunft der Gruppen werden als natürlich und unveränderlich vorgestellt, das Anderssein der Gruppe erscheint als eine ihr innewohnende Tatsache.“ (Miles 2000: 24). Weiters werden laut Miles auch somatische Merkmale wie beispielsweise Hautfarbe mit einer Bedeutung versehen. Dieser ursprüngliche Rassendiskurs ist, wie oben bereits erwähnt, in Verdrängung geraten. Nicht mehr die Hautfarbe wird als Kriterium herangezogen, um gewisse Gesellschaftsschichten zu diskriminieren, sondern deren Lebensweise, Lebensform und Lebenspraktiken, kurz gesagt, deren Kultur.
Wenn nun nicht mehr die äußern Merkmale ausschlaggebend sind, sondern wie bereits erwähnt die ganze Kultur, so spricht man von einem „Neorassismus“, „kulturalistischen Rassismus“ oder auch von einem „Kulturalismus“.
Einer der Haupttheoretiker des Neorassismus ist der französische Philosoph Etienne Balibar. Er vertritt folgende Grundthese vom Neorassismus, die auch als Definition eines solchen verwendet werden kann. „ [Neorassismus ist] ein Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologischen Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist“ (Balibar 1998: 28). Weiters ruft beim Neorassismus laut Balibar die Kultur, als feste und unveränderbare Einheit, eine „natürliche“ menschliche Reaktion hervor. Kommt es zur Vermischung verschiedener kulturellen Einheiten, erzeugt dies eine menschliche „Abwehrreaktion“. Durch die Transformation vom klassischen „Rassismus mit Rassen“ zum, wie es Balibar bezeichnet „Rassismus ohne Rassen“ geschieht folgendes: „.[N]icht die rassistische Zugehörigkeit, sondern dass rassistische Verhalten [wird] zu einem natürlichen Faktor erklärt.“ (Balibar 1992: 30). Kurz zusammengefasst könnte man sagen, dass die Unterschiedlichkeit von Kultur A zu Kultur B, bei der „Vermischung“ dieser beiden Kulturen, zu einer notgedrungenen rassistischen Handlung führt. In unserem Fall zu einem „Clash of civilizations“.
Charlotte Spitzer, die sich vorwiegend mit Neorassismus in Bezug auf Europa auseinandersetzt, spricht von einer „Naturalisierung menschlichen Verhaltens“ (Spitzer 2003: 70). Sie geht allerdings auch auf Huntington ein und bezeichnet ihn als einen Vertreter der kulturhegemonialen Doktrin. (vgl. Spitzer 2003: 131). Diese Doktrin, beurteilt andere Kulturen von einem stark eurozentristischen Standpunkt aus, welche die „westliche“ Kultur als fortschrittlich ansieht und den Rest der Welt als „rückständig“ und „primitiv“. Diese Identitätsbildung die mit einem starken „Wir versus Sie“ Gefühl spielt, bildet die Grundlage von Huntington´s Zivilisationsparadigma.
Mit dieser Grundproblematik, wie die „Westliche Welt“ über den „Rest“ spricht, setzt sich auch Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies auseinander. Er analysiert den kulturell hegemonialen Diskurs und stellt fest, dass dieser eurozentristisch geführte Diskurs maßgeblich dafür verantwortlich ist, wie wir über andere Kulturen denken und sogar in der Praxis mit ihnen umgehen (vgl. Hall: 1994: 178).
Diese Annahme, ist von wesentlicher Bedeutung, wenn wir am Schluss, die Funktion des Werkes von Huntington kurz erläutern. „The Clash of civilization“ ist also nicht nur ein 400 seitige Interpretation, sondern hat auch Einfluss auf die Praktiken bzw. auch Ausschließungspraktiken von Menschen.
Samuel P. Huntington
Nachdem wir nun ein theoretisches Grundgerüst in Bezug auf den Kulturbegriff, und dessen Verwendung im Neorassistischen Diskurs aufgestellt haben, können wir uns Samuel Huntington´s Theorie widmen. Hierfür werden wir zuerst seinen Begriff von Kultur bzw. Zivilisation erläutern und in weitere Folge uns mit der Funktion seines Zivilisationsparadigmas beschäftigen.
Kulturbegriff bei Huntington
Wie schon Hauck erwähnt, verwendet Huntington nicht den Begriff der Kultur, sondern den Begriff der Zivilisation. Als Zivilisation definiert er die größte Einheit, mit dem sich ein Mensch identifizieren kann. „ A civilization is thus the highest cultural grouping of people and the broadest level of cultural identity people have...]“. (Huntington 1996: 43) Die Zivilisation an sich ist wiederum definiert durch Sprache, Geschichte, Religion und der Selbstidentifizierung der Menschen. Diese Identifizierung ist laut Huntington ein natürlicher Prozess. Huntington ist der Ansicht, dass der Mensch sich automatisch die Frage stellt, wer bin ich? Diese Identitätsbildung erfolgt in dem er sich in Staaten, Religionen und Zivilisationen wiedererkennt. „We know only when we know who we are not and often only when we know whom we are against“. (Huntington 1996: 21) Die Selbstidentifikation beruht nun darauf, dass man Unterschiede zum „Fremden“ sucht und sich in weiterer Folge zu anderen Zivilisationen hin abgrenzt. Die Differenzen sind laut Huntington jedoch nicht mehr ideologischer, politischer oder ökonomischer Art, nein sie sind kultureller Natur. (vgl. Huntington 1996: 21). Die Kultur ist nun dafür verantwortlich, dass es zu einem „Clash of civilizations“ kommt!
In seinem Buch beschreibt Huntington, etliche Faktoren die ausschlaggebend dafür sind, wie nun Zivilisationen beschaffen sind. Eines wird aber klar deutlich, Religion ist für ihn das zentrale Elemente einer Zivilisation. „Religon is a central defining characteristic of civilizations“ (Huntington 1996: 47).
Zur „Natur“ der Zivilisationen fügt er jedoch hinzu, dass sie keine festgesetzten Grenzen, keinen präzisen Anfang und präzises Ende haben, sowie eine Neuidentifizierung mit einer anderen Zivilisation möglich ist. „Civilizations have no clear- cut boundaries […] people can and do redefine their identieties […] the cultures of peoples interact and overlap“ (Huntington 1996: 43). Er stellt aber klar fest, dass die Zivilisationen reale Gebilde bzw. Wesen sind. „Civilizations are nonetheless meaningful entities, and while the lines between them are seldom sharp, they are real“ (Huntington1996: 43). Diese Aussage wird in der Beantwortung unserer Forschungsfrage von zentraler Bedeutung sein, da sie erstens den von Huntington verwendeten Kulturbegriff widerspiegelt und zweitens ein Gedankenkonstrukt impliziert, welches die Grundlage des neorassistischen Diskurses darstellt.
Huntingtons Zivilisationsparadigma
Wie bereits in der Einleitung erwähnt geht die zentrale Hypothese Huntington´s nicht mehr davon aus, dass Konflikte auf einer ideologischen Ebene bzw. ökonomischen Ebene ausgetragen werden, sondern, dass es zu einem kulturellen Konflikt kommt. Dieser Konflikt verläuft zwischen den verschiedenen Zivilisationen.
In weitere Folge schreibt er den unterschiedlichen Zivilisation gewisse Eigenschaften und Wertehaltungen zu. Der „Westen“ ist geprägt von Liberalismus und Demokratie, hingegen die „Islamische Zivilisation“ von Traditionalismus, Glaube und Religion. Diese Eigenschaften führen laut Huntington dazu, dass die „Islamische Zivilisation“ eher zu Konflikt und Auseinandersetzung neigt als die „Westliche Zivilisation“. Er beschreibt diese Annahme sehr überspitzt mit: „Islam´s bloody boarders“ (Huntington: 1996: 254)
Ein weiteres Problem stellt für ihn das Bevölkerungswachstum der „nicht-westlichen“ Welt dar. Im Jahre 1920 machte die „Westliche Zivilisation“ 49% der Weltbevölkerung aus, im Gegensatz dazu soll 2020 der „Westen“ nur mehr 10% der Gesamtbevölkerung ausmachen. (vgl. Huntington 1996: 91). Kurz gesagt, der Westen ist durch den Rest der Welt bedroht, um diese Bedrohung zu umgehen muss der Westen neue Strategien entwickeln bzw. sich nach „innen“ wie nach „außen“ neu orientieren.
Der „Westen“, sollte sich vom Gedanken verabschieden, westliche Werte, wie Demokratie und Freiheit in nicht westliche Gesellschaften zu transformieren, da diese mit den traditionellen und religiösen Werten, der nicht-westlichen Gesellschaft unvereinbar sind. Im Gegenzug dazu, sollte die „westliche Zivilisation“ auf sich selbst zurück beziehen, um die eigenen Werte zu stärken und zu schützen. Dieser Prozess sei notwendig, da es in der westlichen Welt zu einem Werteverfall kommt. Dieser macht sich bemerkbar durch, den Verlust von familiären Werten, „Erosion“ des christlichen Glauben oder sinkender Arbeitsmoral. Diese „Fehlentwicklung“ wird noch verstärkt durch die immer stärker werdende Migration, welche zur Folge hat, dass sich „nicht-westliche“ Gesellschaften in der „westlichen Zivilisation“ etablieren. Der „Westen“ wird quasi vom „Rest der Welt“, speziell dem Islam, durch die Implementierung der eigenen Werte herausgefordert: „[... such challenge comes from immigrants from other civilizations who reject assimilation and […] propagate the values, customs, and cultures of their home societeies...]“ (Huntington: 1996: 304f.). Jedoch nicht nur MigrantInnen sind laut Huntington schuld am Niedergang „westlicher“ Werte, auch „westliche Multikulturalisten“, die ein Land mit einer Vielzahl an Zivilisationen fordern. Sie glauben laut Huntington an eine multikulturelle Gesellschaft, die jedoch nicht möglich ist. Ein Land müsse sich mit einer Zivilisation identifizieren und beruft sich dabei auf die Geschichte. „History shows that no country so constituted (country of many civilizations) can long endure as coherent society.“ (Huntington: 1996: 306). Er geht sogar noch einen Schritt weiter und beschuldigt die Multikulturalisten, die „westliche Zivilisation“ und deren Werte zu deformieren und zu zerstören. Nicht nur zwischen der westlichen Zivilisation und der „nicht-westlichen“ kommt es zu einem Zusammenprall, auch innerhalb des Gesellschaft, nämlich zwischen den Verteidigern des „westlichen Wertesystems“ und den Multikulturalisten.
Zusammenführung und Analyse der Theorie
Nachdem wir uns nun eine theoretische Grundbasis erarbeitet haben, können wir nun zur Beantwortung unserer Forschungsfrage kommen.
Jedoch sollte vorher neuerlich klar gemacht werden, dass Huntington in seinem Buch, die politische Lage des 21. Jahrhundert interpretiert und daher nicht auf eine gesicherte Datenlage zurückgreift, sondern viel mehr eine Deutung der politischen Zukunft unternimmt. Daher ist es nicht sinnvoll sich mit Detailfragen Huntington´s zu beschäftigen, ob beispielsweise im 21. Jahrhundert die „westliche“ Bevölkerung auf 10% der Weltbevölkerung schrumpfen wird, nein viel mehr interessiert uns, ob Huntington´s Theoriebildung, neorassistische Grundzüge aufweist. Dafür wurde im ersten Teil der Arbeit der Kulturbegriff und dessen Verwendung im neorassistischen Diskurs genauer analysiert. Darauffolgend kam es zu einer näheren Betrachtung Huntington´s Kulturbegriff und dessen Bedeutung in seinem Zivilisationsparadigma. Nun werden wir nun alle Stricke zusammenführen um letztendlich zur Beantwortung der Forschungsfrage zu kommen.
Überprüfung der Forschungsfrage
Beginnen wir nun mit der Überprüfung unserer Forschungsfrage. Am Anfang steht laut Huntington die Identitätsproblematik. Jeder Mensch identifiziert sich mit verschiedenen Kulturen und Wertesystemen. Diese Überlegung scheint auf den ersten Blick logisch. Huntington fügt jedoch hinzu, dass wir uns erst dann erkennen, wenn wir wissen gegen wen wir sind. Dieser Gedanke baut auf einer dichotomen „Wir-Sie“ Identitätsbildung auf, die das Konstruieren eines Feindbildes voraussetzt. Solch ein Vorgang hat zur Folge, dass wir jegliche Differenz innerhalb einer „Zivilisation“ nicht erkennen. Ein Denken mit Vorurteilen und Stereotypen ist dadurch vorprogrammiert. Vorurteile und Stereotypen wiederum sind fixe Bestandteile des rassistischen Diskurses. Laut Robert Miles wird das „Anderssein“ als eine innewohnende Tatsache betrachtet. (vgl. Miles 2000: 24)
Wenn Huntington den einzelnen Kulturen gewisse Eigenschaften zuschreibt, wie beispielsweise der Islam neige eher zu gewalttätigen Konflikten als andere Zivilisationen, so bedient er sich einer rassistischen Bedeutungskonstruktion. Im ursprünglichen rassistischen Diskurs war es die Hautfarbe, die mit einer Bedeutung versehen wurde. Der Neorassismus vollzieht dies mit der Lebensweise bzw. Lebensform, in unserem Fall der „islamischen“ Lebensweise.
Obwohl der Autor auf Seite 43, erwähnt, dass Menschen in der Lage sind ihre Identitäten neu definieren und Kulturkreise sich auch überlappen, verwendet er einen sehr starren und homogenen Kulturbegriff. Hybriden Kulturen, die sich aus verschiedenen Bestandteilen persönlicher Identifizierung zusammensetzen, erteilt Huntington eine klare Absage. Er geht davon aus, dass das hauptausschlaggebende Element persönlicher Identifizierung mit der jeweiligen Zivilisation, die Religion sei. Diese Annahme ist noch nicht zwangsläufig neorassistisch, dennoch müssen wir festhalten, dass seine Argumentation nicht stimmen kann, wenn wir auf bereits bestehende multikulturelle und hybride Kulturformen verweisen. Seine Argumentation passiert auf einem sehr vereinfachten und abstrahierten „Schwarz-Weiss“ Denken, die jegliche Form von kultureller Vielfalt negiert.
Um nun jedoch die Forschungsfrage beantworten zu können, bedarf es der Überprüfung zweier weiteren Betrachtungen. Erstens, Huntington´s Kulturbegriff und zweitens seiner Hauptannahme, dem „Clash of civilizations“ selbst.
Wie wir bereits bei Huntington´s Kulturbegriff erwähnt haben, konzentrieren wir uns auf eine Hauptaussage in seinem Werk. „Civilizations are nonetheless meaningful entities [...], they are real“. (Huntington 1996: 43). Mit dieser Annahme, dass „Zivilisationen“ reale Gebilde sind, widerspricht man erstens der allgemeinen Auffassung, dass Zivilisationen sozial gedachte Konstrukte sind und zweitens sieht man Zivilisationen als „natürlich“ an. Diese Natürlichkeit impliziert jedoch auch, dass die kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen, sowie deren unterschiedliches Verhalten eine Natur gegebene Tatsache ist. Genau diese Ansicht spiegelt sich im rassistischen Diskurs wieder. Um Robert Miles nochmals zu zitieren: „Status und Herkunft der Gruppen werden als natürlich und unveränderlich vorgestellt, das Anderssein der Gruppe erscheint als eine ihr innewohnende Tatsache“ (Miles 2000: 24). Der deutsch-türkische Historiker und einer der schärfsten Kritiker Huntington´s, Gazi Çağlar bezeichnet es folgend: „In der Tat definiert Huntington Zivilisationen mit Merkmalen biologischen Lebens.“ (Çağlar 2002: 23). Durch diese Überprüfung haben wir nun den ersten Hinweis auf eine neorassistische Theoriebildung.
Zum Schluss sollte jedoch die Hauptannahme Huntington´s überprüft werden. Der „Clash of civilizations“ geht ja davon aus, dass es bei einer Vermischung der verschiedener Kulturen zu einem unvermeidlichen Konflikt kommt. Man könnte es jedoch auch noch anders formulieren. Die Reaktion der Menschen, also der Konflikt, ist eine natürliche Reaktion des Menschen. Es muss zwangsweise und da führt kein Weg vorbei, zu einer Abwehrreaktion kommen, sollte Person A mit der Kultur der Person B in Kontakt kommen. Genau diese Annahme ist wiederum Teil neorassistischer Theoriebildung. Um Etienne Balibar, Haupttheoretiker des Neorassismus zu zitieren: „ [...nicht die rassistische Zugehörigkeit, sondern dass rassistische Verhalten [wird] zu einem natürlichen Faktor erklärt“ (Balibar 1992: 30). Mit dieser Gegenüberstellung wird klar, dass das Zusammenprallen der Kulturen nicht nur wissenschaftlich untragbar ist, sondern selbst Teil des neorassistischen Diskurses ist.
Neben der neorassistischen Annahme, dass kultureller Differenzen „natürlich“ sind, kommt es jedoch auch noch zu einer Naturalisierung Menschlichen Verhaltens. (vgl. Spitzer 2003: 70). Es entsteht eine Verbindung zwischen der Lebensweise bzw. Verhaltensweise eines Menschen mit seiner ethisch kulturellen Herkunft. „Kultur wird eine Form von Natur. “(Spitzer 2003: 70). Genau diese Funktion übernimmt auch der neorassistische Diskurs in dem er nicht mehr die „Rassen“ als Kriterium heranzieht, sondern die unterschiedliche Lebensweise der Menschen. Das Ergebnis ist das gleiche. Menschengruppen werden ausgegrenzt.
Die Beantwortung der Forschungsfrage ergibt sich aus den eben genannten Punkten. Ja Huntington`s Theoriebildung ist als neorassistisch zu bezeichnen. Und auch wenn sein Buch eine reine Interpretation bzw. Deutung der politischen Verhältnisse ist, so ist der „Clash of Civilizations“ Teil eines rassistischen Diskurses!
Schlussfolgerungen
Zum Schluss sollte betont werden, dass dieses Buch von unzähligen politischen Akteuren rezipiert worden ist. Huntington´s These liefert mit dem „Clash of Civilizations“ eine Theorie, die als Legitimationsgrundlage für zahlreiche Ausgrenzungspraktiken gegenüber anderen Kulturen, herangezogen wird. Die wirklichen Probleme einer Gesellschaft sind nicht die kulturellen Unterschiede, sondern viel eher die Hetzer, die sich an solch einem Gedankengebäude bedienen und damit die Existenzgrundlage des kulturellen Zusammenlebens zerstören.
Bei der Recherche der Literatur wurde ich auf das Buch „Identitätsfalle“ von Armayta Sen aufmerksam, dass einen Gegenentwurf zu Huntington´s Zivilisationsparadigmas liefert und ein klares Plädoyer für eine multikulturelle Gesellschaft ist. Bücher wie diese schaffen einen Gegenpol zum menschenfeindlichen rassistischen Diskurs. Multikulturelle Gesellschaften sind keine Gefahr, sie stellen eine Chance dar, die genützt werden muss. Nur dann können wir unser aller Ziel erreichen. Eine friedliche Welt!
Literatur
Huntington, Samuel: The Clash of Civilization?, In: Foreign Affairs, Jg. 72, Nr. 3, 1993, S. 22-49
Huntington, Samuel P. (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon and Schuster.
Balibar, Ètienne (1998): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Berlin/Hamburg: Argument-Verlag.
Çağlar, Gazi (2002): Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen: der Westen gegen den Rest der Welt; Eine Replik auf Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Münster: Unrast.
Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Band 2. Hamburg: Argument-Verlag.
Hauck, Gerhard (2006): Kultur. Zur Karriere eines sozialwissenschaftlichen Begriffs. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Hobsbawm, Eric. (1983): Introduction: Invention of Traditions In: ders. Und T. Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambrigde University.
Lindner, Rolf (2002): Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts. In: Lutz Musner/ Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften: Forschung- Praxis- Positionen. Wien. WUV. 69-87.
Miles, Robert (2000): Bedeutungskonstitution und der Begriff Rassismus. In: Nora Räthzel (Hg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument-Verlag. 17-33
Müller, Harald (1998): Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington. Frankfurt/M: Fischer.
Sen, Amartya (2006): Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München: C.H. Beck.
Spitzer, Charlotte (2003): Neorassismus und Europa. Rassistische Strukturen in der Selbstvergewisserung europäischer Identität. Frankfurt/M: Europäische Hochschulschriften.
Wie demokratisch ist unsere repräsentative Demokratie?
„Wie demokratisch ist unsere repräsentative Demokratie?“ Wenn man diese Frage beantworten möchte, so geht dies mit dem Dilemma einher, welches sich in der divergierenden Bedeutungen des Begriffes Demokratie widerspiegelt. Die Beurteilung einer Demokratieform bezüglich deren Vorteile bzw. Mängel, ist eng verbunden mit der sozialen, kulturellen und historischen Verhaftung des Betrachters, sowie des ihm zu Grunde liegenden theoretischen als auch des empirischen Wissens über Demokratie. Eine objektive Bewertung ist daher nicht möglich, da Menschen über unterschiedliche Vorstellungen und Werte bezüglich Demokratie verfügen.
Des weiteren muss sich der/die BetrachterIn der Beurteilungskriterien bewusst werden, mit denen er/sie den Versuch unternimmt, die Qualität von Demokratie zu messen. Es bestehen oft konträre Zugänge zu Demokratie, die in weitere Folge auch zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Bewertung von Demokratie führen. So wird ein Demokratieverständnis indem die soziale Gleichheit der BürgerInnen im Zentrum steht, andere Beurteilungskriterien als wichtig erachten, wie beispielsweise ein Demokratieverständnis, welches die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen hervorhebt.
Mitunter kann neben den unterschiedlichen Beurteilungskriterien auch der Anwendungsbereich einer Demokratietheorie, Einfluss auf die Antwort, der oben genannten Fragestellung haben. So ist beispielsweise die Repräsentative Demokratie immer im Kontext der Entstehung des modernen Flächenstaates zu verorten, dessen Größe, neue Herausforderungen bezüglich der Verwirklichung einer Volksherrschaft, mit sich brachte. Im Gegensatz dazu steht beispielsweise die direktdemokratische Demokratietheorie Rousseaus, die sich in ihrem historischen Kontext auf kleinere Stadtstaaten bezog. (vgl. Schmidt 2010: 488)
Wie demokratisch ist nun eine repräsentative Demokratie? Versucht man darüber ein Aussage zu treffen, sollte man differenzieren, ob man von einem normativen Standpunkt aus oder von einem empirisch analytischen Standpunkt argumentiert. (vgl. Schmidt 2010: 23). Letzterer wird sich daher eher auf einen Ist-Zustand beziehen und ein vorhandenes politisches System in das Zentrum der Analyse rücken. Verwendet der/die BetrachterIn hingegen eine normative Demokratietheorie, so beschränkt sich dies nicht nur auf das Beschreiben einer aktuelle politische Situation, sondern man formuliert einen Soll-Zustand. Hierbei werden auch Anregungen zur Veränderung einer aktuellen politischen Realität formuliert und man definiert gleichzeitig einen spezifischen Maßstab, sowie Kriterien, an denen man Demokratie misst.
Wie bereits erwähnt, ist eine Definition des verwendeten Demokratiebegriffes, Voraussetzung für Analyse und Kritik einer Demokratieform. Der Ausgangspunkt unserer Definition wird durch den Begriff der Volksherrschaft gebildet, welcher sich vom Griechischen „demos“, dem Volk und „krátein“, herrschen, ableitet. (vgl. Leggewie 2008: 75). Das Prinzip der Volksherrschaft ist die Volkssouveränität. Dies besagt: „dass die höchste Gewalt des Staates und oberste Quelle der Legitimität das Staatsvolk selbst ist“. (Klaus/Klein 2006). Bei näherer Betrachtung der Definition muss man feststellen, dass in den modernen Massendemokratien, das Volk nicht unmittelbar an der Ausübung der Volksherrschaft beteiligt ist, da sich das politische Handeln zum größten Teil auf Repräsentanten und Abgeordnete beschränkt. Im Gegensatz zur direkten Demokratie sind in einer Repräsentativen Demokratie, Delegierte und Repräsentanten die Hauptakteure des politischen Handelns. Hier zeigt sich, dass man den Überbegriff der Demokratie, der sich oft durch eine gewisse Unschärfe auszeichnet, differenzieren muss.
Die Direkte bzw. Repräsentative Demokratie tritt jedoch nie in ihrer Reinform auf. So beinhaltet die Repräsentative Demokratie zahlreiche direktdemokratische Mitbestimmungsrechte, wie beispielsweise Volksabstimmungen oder Volksbegehren. Der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka schreibt, dass im Idealfall eine Demokratie sich immer aus einer Mischung von direktdemokratischen und repräsentativen Elementen zusammensetzt, deren Elemente wiederum in einer Balance zueinander stehen sollten. Droht der Repräsentative Charakter einer Demokratie überhand zu nehmen, besteht nach ihm die Gefahr einer Elitendemokratie. (vgl. Pelinka 2004: 31).
Diese Überlegung bildet auch einen Hauptkritikpunkt der Repräsentativen Demokratie. Das Prinzip der Volkssouveränität steht nämlich in einem Spannungsfeld mit dem repräsentativen Charakter der modernen Massendemokratie. Das wohl am meist diskutierte Gegenargument spiegelt sich in der Vorstellung wider, dass nicht mehr der/die BürgerIn das politische Handeln bestimmt, sondern die politische Elite. Die Folgen eines solchen Zustandes sind in weiterer Folge gekennzeichnet durch eine Legitimationsproblematik und durch die nichtvorhandene Identifikation des Bürgers mit seinem politischen Gemeinwesen.
Diese Überlegungen sind nicht nur ein Produkt der modernen Massendemokratie, sondern sie wurden auch schon im 18. Jahrhundert von einem der wohl bedeutendsten Philosophen der Aufklärung formuliert. Nach Jean Jaques Rousseau kann nämlich die Souveränität des Volkes nicht vertreten werden. (vgl. Rousseau 1762: 103) Mit dieser radikal demokratischen Ansicht, die Jean Jaques Rousseau zu einem Vertreter der direkten Demokratie macht, stellt er sich gegen jegliche Form einer Repräsentativen Demokratie, die von späteren Theoretikern, der „Federalist Papers“ favorisiert wird. Die Befürwortung einer direkten Demokratie, sowie die vehemente Ablehnung der Repräsentation durch einen Vertretungskörper, argumentiert er im Zusammenhang mit der Gefahr, dass sich der Bürger nicht mehr um die öffentlichen Belange des Staates kümmert. Nur dort wo die Bürger sich an Versammlungen partizipieren, ist ein funktionierender Staat möglich. (vgl. Rousseau 1762: 102) Private Interessen des Individuums müssen der öffentlich Sache untergeordnet werden. Zusammenfassend könnte man festhalten, dass Rousseau´s Konzept ein äußerstes Maß an Einsatzbereitschaft des Einzelnen abverlangt, sich für das politische Gemeinwesen einzusetzen.
Die von Rousseau geforderte Einsatzbereitschaft für das politische Gemeinwesen könnte man auch in Verbindung bringen, mit dem in Massendemokratien auftretenden Phänomen, der vielfach diagnostizierten Politikverdrossenheit. Aufgrund der kaum vorhandenen Möglichkeit zur politischen Partizipation, die sich auf die Wahl von Abgeordneten beschränkt, findet auch keine Identifikation mit dem politischen Gemeinwesen statt. Die Folge sind niedrige Wahlbeteiligungen. So könnte man auch festhalten, dass die Möglichkeit zur politischen Partizipation und das damit verbundene Bewusstsein für ein politisches Gemeinwesen, ein Indikator ist, mit dem man die Qualität einer Demokratie messen könnte.
Es sollte jedoch erwähnt werden, dass Rousseau´s theoretische Überlegung auf dem Prinzip der absoluten Volkssouveränität aufbaut. (vgl. Schmidt 2010: 94) Demnach hat der Wille des Volkes höchste Priorität und ist auch unfehlbar. Des weiteren muss sich der Bürger mit seinen partikularen Interessen dem „Volonté générale“ unterordnen. Die Freiheit des Einzelnen, sowie dessen Schutz vor einem unfehlbaren Volkswillen wird nicht gewährleistet. Das Resultat der Theorie Rousseaus ist, dass eine Mehrheit, deren Handlungen nicht in Frage gestellt wird, über die Minderheit bestimmt. Oder um es mit anderen Worten zu beschreiben, es herrscht eine Tyrannei der Mehrheit.
Ein zusätzlicher Kritikpunkt ist die praktische Anwendung seiner radikalen Demokratievorstellung. Seine Theorie lässt sich, wenn überhaupt, nur auf kleine Stadtstaaten anwenden, auf die sich Rousseau bezieht. (vgl. Rousseau 1762: 105). Robert Dahl, amerikanischer Politikwissenschaftler und Demokratietheoretiker, kritisiert an Rousseau´s Vorstellungen, dass nicht einmal in kleinen Stadtstaaten, das Konzept einer direkten Demokratie umsetzbar wäre. Nach Dahl ist auch in Kleinstaaten das Prinzip der Delegation bzw. Repräsentation unumgänglich. (vgl. Schmidt 2010: 93)
Im Gegenzug zu Rousseau´s Theorie, in der der gemeinsame Wille über dem partikularen Interesse des Einzelnen steht, sowie die Volkssouveränität nicht veräußert und durch Abgeordnete vertretbar ist, entsteht 1787 der Verfassungsentwurf der „Federalists“, die sich für eine repräsentative Verfassung und einen föderalen Bundesstaat, der zukünftigen Vereinigten Staaten von Amerika, einsetzten. Im Zentrum steht nicht der Gemeinwille und die Unveräußerlichbarkeit der Volkssouveränität, sondern es geht um die Etablierung eine Demokratie innerhalb eines Flächenstaates, welche sich durch ihren repräsentativen Charakter auszeichnet. (vgl. Schmidt 2010: 99)
Konträr zu Rousseau, beschränkt sich das Demokratieverständnis der Federalists, nicht nur auf einen kleinen Stadtstaat, sondern sie sehen in der Größe des Staates, durchaus Vorteile für die Verwirklichung von Demokratie. (vgl. Hamilton et. al 1787: 56). Diese Vorteile heben sie auch im Artikel 10 der „Federalist Papers“ hervor, in dem sie eine Differenzierung zwischen einer „reinen Demokratie“ und einer „Republik“ vornehmen. Ersteres kennzeichnet sich durch ein politisches Gemeinwesen, in dem die Bürger selbst die Regierungsgeschäfte ausüben, nämlich eine direkte Demokratie, in der Größe eines Stadtstaates (vgl. Hamilton et. al 1787: 55). Nach Hamilton neigt diese Demokratieform jedoch zur politischen Instabilität und es kommt in weitere Folge zu einer Tyrannei der Mehrheit. Generell muss das öffentliche Wohl vor den partikularen Interessen einzelner Faktionen geschützt werden. Dieser Schutz ist jedoch nur in Form einer „Republik“ zu gewährleisten, die aufgrund ihrer Größe, eine Faktionsbildung erschwert.
Des weiteren wird durch die Wahl von unabhängigen Abgeordneten sichergestellt, dass nicht die Partikularinteressen einer einzelnen Faktion überhand nehmen und dadurch das öffentliche Wohl geschädigt wird. Zusätzlich wird durch die Größe des Territoriums gewährleistet, dass eine größere Zahl an Parteien und divergierende Interessen, die Einflussnahme einer einzelnen Faktion erschweren. (vgl. Hamilton et. al 1787: 57).
Die Größe des Territoriums wirkt sich auch auf die Verlässlichkeit der Abgeordneten aus. So besteht für den Wähler eine größere Wahlmöglichkeit und umgekehrt soll die große Zahl an Wählern, den Druck auf die Gewählten erhöhen. Durch dieses Verhältnis sollte sichergestellt werden, dass sich die Abgeordneten für das öffentliche Wohl einsetzen. (vgl. Hamilton et. Al 1787: 56)
Hiermit brechen die Autoren der „Federalist Papers“ mit einer zu dieser Zeit weit verbreiteten Vorstellung, dass Demokratie nur in einem Kleinstaat verwirklicht werden könne. Die Volkssouveränität wird in ihren Schriften nicht mehr als absolut und unteilbar wahrgenommen. Das Prinzip der Repräsentation nimmt eine zentrale Rolle in ihrer Argumentation ein und ist zugleich der Wegbreiter für die moderne Massendemokratie. Demokratie wird neben der Repräsentation auch durch die Verfassung bestimmt. So soll die Ausübung von Herrschaft nur auf der Grundlage einer Verfassung möglich sein. (vgl. Podlech 1984: 524). Dies sollte auch in weitere Folge der Repräsentativen Demokratie innerhalb des modernen Flächenstaats zu ihrem Durchbruch verhelfen.
Demokratietheoretisch muss man feststellen, dass in den „Federalist Papers“, die politische Partizipation der Bürger keinen hohen Stellenwert einnimmt. Kritisch betrachten sollte man auch die Repräsentation von Frauen und Sklaven, die in den Theorien der „Federalist Papers“, vom politischen Gemeinwesen ausgeschlossen sind. (vgl. Schmidt 2010: 111)
Die Kritik an der nichtvorhandenen Inklusion von Gesellschaftsgruppen lässt sich auch auf Repräsentative Demokratien der Gegenwart übertragen. Durch Globalisierung und zunehmende Migrationsströme, leben vermehrt Menschen in Gesellschaften, in denen sie nicht politisch repräsentiert werden. MigrantInnen in Aufnahmegesellschaften sind zwar an die Gesetze gebunden, die von der Mehrheitsbevölkerung „demokratisch“ beschlossen werden, sie selbst können jedoch an demokratischen Entscheidungen nicht teilnehmen. Dies führt in weiterer Folge zu einem Legitimationsproblem und zur bewussten Exklusion von bestimmten Bevölkerungsgruppen innerhalb eines politisches Systems, welches für sich den Anspruch erhebt, demokratisch zu sein. Repräsentative Demokratie kann daher nur dann als demokratisch bezeichnet werden, wenn sie auch gewährleistet, dass marginalisierte Gruppen innerhalb eines politischen Gemeinwesens, entsprechend repräsentiert werden. Erfolgt dies nicht, führt dies zu einer Legitimation´s Lücke zwischen Regierenden und Regierten und einer „demokratisch legitimierten“ Übermacht der Mehrheit über die Minderheit. Aufkommende Politikverdrossenheit und fehlende Identifikation mit dem Gemeinwesen sind die Folgen einer solchen Missstellung, in der die Repräsentation der politischen Bürger nicht der tatsächlichen Bevölkerung eines Landes entspricht.
Auch der Grad der Partizipationsmöglichkeit ist ein möglicher Faktor, um eine Repräsentative Demokratie bezüglich ihrer Qualität zu untersuchen. So erweitern die VertreterInnen der partizipatorischen Demokratietheorie, das Demokratieverständnis in Bezug auf die Möglichkeit zur politischen Beteiligung. Zentral dabei ist, dass man Demokratie nicht nur im öffentlich, staatlichen Bereich wahrnimmt, sondern auch im privaten Bereich. Diese Erweiterung des Demokratieverständnisses schließt auch die Sphäre der Wirtschaft und die Privatsphäre mit ein. (vgl. Schmidt 2010: 238). Dieser Ansatz ist auch eng mit den Auswirkungen der Globalisierung verbunden, die die konventionelle Repräsentative Demokratie vor neue Herausforderungen stellt, bedenkt man, dass politische Entscheidungen nicht nur auf staatlicher Ebene zustande kommen.
Wenn man also eine Aussage darüber machen möchte, wie demokratisch die Repräsentative Demokratie ist, so muss man sich immer den Bewertungsmaßstab vor Augen führen, mit dem man Demokratie misst. So vielfältig die Demokratietheorien sind, so vielfältig sind auch ihre normativen Ziele. Einige Theorien sehen in der politischen Partizipation, den entscheidenden Faktor für die Verwirklichung von Demokratie, andere wiederum beziehen sich auf die Sicherung von Freiheitsrechten. Soziale Demokratietheorien heben hingegen die soziale Gleichheit hervor, die sich nicht nur auf die politische Gleichheit beschränkt. Um nun Aussagen darüber machen zu können, wie demokratisch eine Repräsentative Demokratie verfasst ist, muss sich der/die BetrachterIn, immer das theoretische Grundwerkzeug vor Augen führen, mit denen er Ziele und Normen einer Demokratie formuliert.
Schlussendlich sollte man aber festhalten, dass die Repräsentative Demokratie sich ständiger Kritik aussetzen muss, um ihre Daseinsberechtigung zu erlangen. Nur durch einen kontinuierlichen Prozess des kritischen Hinterfragens, kann die Repräsentative Demokratie ihre demokratischen Prinzipien erfüllen. Zusätzlich muss sie sich den unaufhaltsamen Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen, um in weitere Folge nicht ihre Legitimation zu verlieren. Diese Veränderungen treten insbesondere im Kontext der Globalisierung auf, die die Demokratie vor neue Herausforderungen stellt.
Um jedoch eine kritische Auseinandersetzungen zu ermöglichen, müssen gewisse Grundvoraussetzungen erfüllt sein. Ins Zentrum rückt dabei eine funktionierende Öffentlichkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass nicht nur Eliten den Demokratiediskurs mitbestimmen, sondern auch subalterne Gruppen, wie MigrantInnen und sozial Benachteiligte verstärkt miteingebunden werden. Nur dann kann sich auch eine Repräsentative Demokratie mit dem Attribut „demokratisch“ schmücken!
Literaturverzeichnis:
Hamilton, Alexander/ Madison, James/ Jay, John [1787] (1994): Die Federalist- Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter, Paderborn.
Leggewie, Claus (2008): Demokratie. In: Grundlagen der Medienpolitik. Ein Handbuch. (Hrsg.): Lutz Hachmeister, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn. 75-79
Pelinka, Anton (2004): Grundzüge der Politikwissenschaft. Böhlau Verlag. Wien. Köln. Weimar.
Podlech, Adalbert (1984): Repräsentation. In: Brunner, Otto/ Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland. Band 5 Pro-Soz, Stuttgart. 522-526
Rousseau, Jean- Jacques [1762] (1977): Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart. 102-105.
Schmidt, G.Manfred (2010): Demokratietheorien. Eine Einführung. Vs Verlag für Sozialwissenschaften. Bonn.
Schubert, Klaus/ Klein, Martina (2006): Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Dietz. Bonn.
Spannungsfeld: staatliche Souveränität und humanitäre Intervention am Beispiel der Nato- Intervention in Libyen
Ausgangslage: Libyen Intervention
Die UN-Resolution 1793 die am 17. März 2011 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet wurde und eine militärische Intervention der NATO autorisierte, befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen zwei Konzepten, nämlich dem Konzept der staatliche Souveränität und dem Konzept der Menschenrechte. Die Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen von außen wurde im Zusammenhang mit dem Schutz der Zivilbevölkerung argumentiert. Die Un-Mitgliedstaaten erhielten das Recht mit „allen erforderlichen Maßnahmen“ den Schutz der Zivilisten durchzusetzen und die Gewalt des Gadhafi Regimes zu stoppen. Mit „all necessary measures“ wurde nicht nur die Errichtung einer Flugverbotszone gerechtfertigt, sondern auch militärische Gewaltakte gegen Bodenziele waren nun möglich. Einzig und allein eine Bodenoffensive wurde in der Resolution 1793 nicht genehmigt. Damit wurde die im Vorfeld viel diskutierte Flugverbotszone bei weitem übertroffen. Die Antwort aus Tripolis ließ nicht lange auf sich warten. Der libysche Regierungssprecher Ibrahim Mussa betonte, dass die Charta der Vereinten Nationen jede Einmischung von außen in innere Angelegenheiten verbietet. Die Resolution würde daher im Widerspruch mit dem Nichteinmischungsgebot nach Artikel 2 der UN Charta stehen. Dieses besagt, dass es Staaten nicht erlaubt ist Gewalt bzw. die Androhung von Gewalt gegen andere Staaten auszuüben.
Somit herrscht ein generelles Interventionsverbot bzw. Gewaltverbot, welches bis auf wenige Ausnahmen beschränkt ist, wie beispielsweise die Selbstverteidigung und Maßnahmen zur Sicherung des Friedens. Dies spiegelt sich auch im Konzept der Souveränität der Staaten wieder, die sowohl über externe als auch interne Souveränität verfügen. Nach innen haben die Staaten ein Monopol über die Herrschaftsausübung, welches jedoch durch territoriale Grenzen beschränkt wird. Auf Basis dieser Grundlage darf sich kein Staat in fremde Staatsangelegenheiten einmischen. Somit wäre aus Sicht der staatlichen Souveränität, ein libyscher Bürgerkrieg eine interne Angelegenheit. Dieser wird bzw. wurde nämlich zwischen dem übrig gebliebenen Machtapparat Gadhafi´s und den „abtrünnigen“ Rebellen aus Benganzi geführt und tangiert auf den ersten Blick kein Territorium eines anderen Staates. Somit wäre die militärische Intervention der Nato nicht konform mit der Charta der Vereinten Nationen, die eine Einmischung in interne Angelegenheiten verbietet. Dieser Sachverhalt muss jedoch im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte gesehen werden.
Dabei lässt sich seit dem Ende des Ost-West Konflikts eine Veränderung erkennen, die eine grobe Verletzung der Menschenrechte als mögliche Rechtfertigung für eine Intervention anerkennt. Die Rechtfertigung konzentriert sich dabei auf die „Bedrohung des Frieden“ und zugleich wird dem UN-Sicherheitsrat die Kompetenz übertragen eine solche Bedrohung festzustellen.
Der „Background“ für diese Argumentation entspringt der Überlegung, dass fundamentale Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Gewaltakte gegen die eigene Zivilbevölkerung, nicht nur die interne Sicherheit gefährden, sondern auch die internationale Sicherheit. Eine Intervention auf Grundlage dieser Argumentation wurde erstmals im Irak Krieg 1991 angewendet. Dabei wurde argumentiert, dass die fundamentalen Menschenrechtsverletzungen gegen die Zivilbevölkerung und die damit verbunden internationalen Flüchtlingsströme den internationalen Frieden gefährden. Spätere Resolutionen die sich auf die Bürgerkriege von Bosnien und Somalia bezogen, wurden erstmals mit der Begründung des Schutzes der Menschenrechte, verabschiedet. Humanitäre Interventionen, als ein Novum der Weltpolitik waren jedoch aufgrund der desaströsen Somalia Intervention heftig umstritten. Das Konzept der humanitären Intervention erlitt spätestens mit dem Völkermord in Ruanda einen tiefen Einbruch. Als eine Reaktion auf die fehlgeschlagene Somalia Intervention konnte sich der Weltsicherheitsrat nicht auf ein Eingreifen einigen. Als die Nato 1999 in den Kosovo Konflikt intervenierte und dies ohne eines Mandates des Sicherheitsrates durchführte, wurde die Diskussion über staatliche Souveränität und den Schutz der Menschenrechte erneut entfacht. Ein richtungsweisendes Ereignis in dieser Diskussion die Rede des zu dieser Zeit amtierenden UN Generalsekretärs Kovi Annan. Er betonte, dass man das Prinzip der staatlichen Souveränität überdenken sollte und dieses nicht pauschal als etwas den Menschenrechten Übergeordnetes betrachten dürfe. Aufgrund der bereits durchgeführten Interventionen und den Ereignissen in Ruanda, entwickelte sich in der Internationalen Staatengemeinschaft eine Diskussion, welche zwischen den Spannungspolen, der humanitären Intervention und dem völkerrechtlichen Gewaltverbot geführt wurde. Die politikwissenschaftliche Literatur griff diese Thematik auf und beschäftigte sich mit den oftmals konträren Positionen. So entwickelte sich eine theoretische Debatte, die von einem Spannungsverhältnis dieser zwei Konzepte ausging. Abseits konventioneller Sichtweisen entwickelte sich auch ein konstruktivistisches Erklärungsmodell, welches die vermeintlich konkurrierenden Konzepte der staatliche Souveränität und der humanitären Intervention nicht nicht per se als konträr begriff.
Vom Standpunkt des Konstruktivismus aus verstehen sich die Konzepte als diskursive Rechtfertigungs- Strategien, die in einem engen Zusammenhang mit kulturellen Normsetzungen stehen. Dies führt uns auch zur Fragestellung des Essays, der sich mit den „vermeintlich“ unterschiedlichen Prinzipien dieser zwei Konzepte auseinandersetzt. Welche Grundannahmen liegen dem Konzept der humanitären Intervention und dem völkerrechtlichen Souveränitätsprinzips zu Grunde bzw. welche Eigenschaft sind für deren Spannungsverhältnis verantwortlich?
Um diese Frage zu beantworten, werden zuerst grundlegende Begriffe, wie Intervention und Souveränität genauer erläutert. Anschließend sollen Konzepte wie, das von der ICISS (International Commission on Intervention and State Sovereignty) ausgearbeitete Konzept der „Responsibility to Protect“ diskutiert werden, welches in einem engen Zusammenhang mit den vermehrt auftretenden humanitären Interventionen steht.
Aufgrund der Aktualität bietet es sich an, etwaige theoretische Überlegungen an Hand des Libyenkonfliktes zu konkretisieren. Auch wenn in den Medien ein positiver Grundtenor in Bezug auf die humanitäre Intervention wahrnehmbar ist, täuscht dies nicht über die Tatsache hinweg, dass eine kritische Auseinandersetzung bezüglich der Rechtmäßigkeit dieses Einsatzes stattfindet. Kritische Stimmen, wie beispielsweise der Hamburger Professor für Rechtsphilosophie und Strafrecht, Reinhard Merkel, sehen in der Libyen Intervention durchaus einen Bruch mit dem Nichteinmischungsgebot nach Artikel 2 der UN-Charta12. Einige Kommentatoren setzen die Libyen Intervention mit einem „Regime Change“ gleich, der von aussen aufoktroyiert wurde. Gleichzeitig wird das „Responsibility to Protect“ Konzept, sowie das Recht auf humanitäre Intervention missbraucht, so der Vorwurf. Dieser Zustand würde es Staaten ermöglichen je nach Bedarf zu intervenieren. Auch wenn im Sicherheitsrat ein großer Pluralität´s Druck vorherrscht, könnte die Möglichkeit zur Intervention von den „Permanente Five“ ausgenützt werden.
Aufgrund diese kritischen Überlegungen stellen sich neuen Fragen in Bezug auf Motive und Absichten der intervenierenden Akteure. Sind wirtschaftliche Interessen beziehungsweise geopolitische Einflussmöglichkeiten die „wahren“ Gründe von humanitären Interventionen? Zugleich muss man sich die Frage stellen, warum wird in Syrien nicht eingegriffen, obwohl das Regime Baschar Al- Assad´s ebenfalls Verbrechen gegen die Menschheit zu verantworten hat. Ab wann darf bzw. soll die Staatengemeinschaft eingreifen? Kann es überhaupt klar festgelegte Kriterien und Maßstäbe geben, bei denen das Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen erfüllt ist und eine humanitäre Intervention somit nötig wird? All diese Fragen drehen sich um eine Problemfeld der Internationalen Politik, nämlich der staatlichen Souveränität und der humanitären Intervention.
humanitäre Intervention Serbien 1999
Das Souveränitätsprinzip
Jeder Staat der als Völkerrechtssubjekt auftritt verfügt über staatliche Souveränität, die sowohl nach innen als auch nach aussen gerichtet ist. Mit Beginn der Neuzeit und der Herausbildung der modernen Staaten entwickelte sich dieses Souveränitätskonzept. Maßgeblich beeinflusst wurde dieses durch die historischen Entwicklungen des zweiten Weltkrieges. Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und Faschismus, sollte das Souveränitätsprinzip eine Art Schutzfunktion einnehmen. Kleinere Staaten, die aufgrund ihrer fehlenden Machtposition innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft eine untergeordnete Rolle einnahmen, sollten durch dieses Konzept formell gleichgestellt werden. Auch wenn dies aufgrund der realen Machtstrukturen eine rein formelle Gleichstellung war, sollte es den schwächeren gegenüber dem stärkeren Staaten einen gewissen Schutz vor feindlichen Aggressionen bieten. Diese formelle Gleichheit spiegelt sich in Artikel 2.1 der Charta der Vereinten Nationen wieder. Dabei wird festgeschrieben, dass alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen über die gleichen Souveränitätsrechte verfügen. Hierbei sollte jedoch betont werden, dass das Souveränitätskonzept nicht nur in einem Spannungsverhältnis mit dem Konzept der humanitären Intervention steht, sondern aufgrund der aktuellen Globalisierungstendenzen zusätzlich abgeschwächt wird. Man könnte auch von einer Erosion staatlicher Souveränität sprechen, betrachtet man jüngere Theorien Internationaler Politik. Neben der Transformation der Souveränität, muss man dieses Konzept einer stark vernetzen Welt gegenüberstellen. So bleibt die Unabhängigkeit der Staaten ein rein formelles Konzept, welches, die vorherrschenden internationalen Machtstrukturen nicht miteinbezieht.
Das Prinzip der Menschenrechte
Neben den Entwicklungen hinsichtlich des Souveränitätskonzeptes unterliegt auch das Konzept der Menschenrechte einer ständiger Veränderung. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten sich die Grundzüge der Menschenrechte im Zusammenhang mit der Französischen Revolution. Die Menschenrechte sind daher eine Idee des „Westens“, die im 20. Jahrhundert internationale Verbreitung fanden. Kodifiziert wurden sie jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg und es kam zu einer „systematischen internationalen Verrechtlichung“. Dabei sollte betont werden, dass die Menschenrechte am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Angelegenheit der souveränen Staaten“ waren.
Betrachtet man die Menschenrechte im Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Souveränitätsprinzip, so muss man festhalten, dass ihre Daseinsberechtigung innerhalb der internationalen Politik nicht unumstritten ist. Aufgrund der Tatsache, dass sie ein Verhältnis der Staaten mit ihren Bürgern widerspiegeln, wäre eine internationale Regulierung der Menschenrechte ein Verstoß gegen das Souveränitätsprinzip, welches eine Einmischung in innere Angelegenheiten verbietet.
Am 10. 12. 1948 kam es zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, diese war jedoch noch nicht völkerrechtlich verbindlich. Erst 1966 wurden die zwei Menschenrechtspakete über die „bürgerlichen und politischen Rechte“ sowie über die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ verabschiedet, die 1976 ihre Gültigkeit erlangten. Diese Menschenrechtspakte wurden bis jetzt von 160 Staaten ratifiziert. Nicht nur auf internationaler, sondern auch auf regionaler Ebene unterliegen die Menschenrechte einer Kodifizierung. So gibt es beispielsweise eine afrikanische Charta der Menschenrechte. Eine von der Arabischen Liga verabschiedete Menschenrechts- Charta scheiterte allerdings aufgrund der spärlichen Ratifizierung der Mitgliedsstaaten.
Für die Gründe, warum Staaten eine internationale Regulierung der Menschenrechte akzeptieren und somit Souveränitätsrechte abgeben bzw. auf Teile ihrer staatlichen Unabhängigkeit verzichten, gibt es mehrere Erklärungsansätze. Insbesonders die „großen“ Theorien der internationalen Politik, wie der Realismus, Institutionalismus oder Liberalismus liefern dafür diverse Erklärungsansätze. So versucht beispielsweise der Realismus die Ratifizierung der Menschenrechte auf die U.S. amerikanische Hegemonie nach 1945 zurückzuführen.
Ganz einen anderen Ansatz liefert der Konstruktivismus. Er geht davon aus, dass kulturelle Normen, Staaten dazu bewegen, sich zur Einhaltung der internationalen Menschenrechte zu verpflichten. Die kulturelle Normsetzung basiert auf der Funktionsweise eines „Lernprozesses“. Durch Ereignisse wie beispielsweise den Völkermord in Ruanda oder die Nato Intervention im Kosovo, werden „kollektive Erfahrungen“ gemacht, die einen Legitimationsdruck auf die internationale Staatengemeinschaft ausüben. Das Ergebnis dieses Prozesses sind Menschenrechtsnormen die von staatlichen Regierungen eingehalten werden müssen.
Durch die immer stärker werdende Implementierung der Menschenrechte veränderten sich auch die „Instrumente“ mit denen man die Verletzung der Menschenrechte sanktionierte. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden Menschenrechtsverletzungen als eine Gefährdung des Weltfriedens betrachtet. Sollte dieser gefährdet werden, obliegt es dem Sicherheitsrat mögliche Sanktionen nach Kapitel 7 der Charta, zu beschließen. In diesem Kapitel werden jene Sanktionen auch als „zu ergreifende Maßnahmen“ bei „Bedrohung oder Bruch des Friedens“ bezeichnet. Dadurch wurde eine Grundlage für humanitäre Interventionen geschaffen.
Durch die Stärkung des Menschenrechtsschutzes verloren die Staaten die interne Souveränität in Bezug auf Überprüfung der Menschenrechte. Somit war die Einhaltung des Menschenrechtsschutzes nicht mehr bloß eine Angelegenheit zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Aufgrund dieser Entwicklung erhielten die Menschenrechte Einzug in die internationale Politik und deren Missachtung wurde als ein Rechtfertigungsgrund für humanitäre Interventionen herangezogen. Prinzipiell werden Staaten daher nur mehr dann als legitim betrachtet, wenn sie fundamentale Menschenrechtsverletzungen unterlassen. Zusätzlich verpflichten sich die Mitgliedsstaaten einen „Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen“, um den angestrebten Frieden zu sichern. Um dies umzusetzen, fördern die Vereinten Nationen die „Verwirklichung der Menschenrechte“. Damit obliegen etwaige Menschenrechtsfragen nicht mehr der alleinigen staatlichen Kontrolle, sondern die Kompetenz wird auf die Organe der Vereinten Nationen übertragen.
In der Praxis hängt die Wahrscheinlichkeit einer Intervention jedoch von zahlreichen machtpolitischen Faktoren ab. Betrachtet man die aktuellen Ereignisse des arabischen Frühlings, so lässt sich keine Aussage darüber machen, ab wann das Maß an Menschenrechtsverletzungen erreicht wird, bei dem eine Intervention erforderlich ist. So wurde in den Libyenkonflikt eingegriffen, in Syrien oder Bahrain kam es jedoch zu keiner Intervention. Dies lässt die Vermutung aufkommen, dass bei humanitären Interventionen, willkürliche Kriterien herangezogen werden. Eine festgeschriebene Regel für einen Tatbestand der eine Intervention rechtfertigen würde, gibt es nicht.
Betrachtet man ganz generell den Interventionsbegriff im Zusammenhang mit der Charta der Vereinten Nationen, so lässt sich festhalten, dass im Artikel 2 Nr. 4 ein Gewaltverbot festgeschrieben ist. Wie oben bereits beschrieben, veränderte sich sowohl das Souveränitätskonzept als auch der Menschenrechtsschutz. Durch Ereignisse wie beispielsweise dem Völkermord in Ruanda wurden neue Erfahrungen gemacht, die auch Einfluss in die aktuelle Menschenrechtspolitik nahmen. So entwickelte sich auch das Konzept der „Responsibility to Protect“, die einen funktionierenden Menschenrechtsschutz gewährleisten sollte.
Aufgrund der von Kofi Annan angeheizten Diskussion bezüglich einer „Rekonzeptionalisierung“ des Souveränitätsbegriffes, wurde vom damaligen kanadischen Außenminister eine Kommission gegründet, die sich mit der Thematik auseinandersetzen sollte. Die ICISS (International Commission on Intervention and State Sovereignty) veröffentlichte den Bericht „The Responsibility to Protect“, der die aktuellen Entwicklungen in Bezug auf staatliche Souveränität und Menschenrechtsschutz analysierte. Darin wird auf das sich verändernde Souveränitätsverständnis eingegangen und zugleich fünf Prinzipien angeführt, die einen annehmbaren Menschenrechtsschutz gewährleisten sollten.
Zentral dabei ist, dass sich der Souveränitätsbegriff fundamental veränderte. „[Der] Souveränitätsbegiff wird im Gegensatz zum klassischen Verständnis nicht mehr als Recht der Staaten gegeneinander, sondern als Pflicht gegenüber ihren eigenen Bevölkerungen definiert“. Führt man diese Überlegung weiter aus, wären trotz des Interventionsverbotes nach Artikel 2 Nr. 4. humanitäre Interventionen zulässig, da Staaten ihre Souveränität aufgrund von Menschenrechtsverletzungen verlieren. Kann ein Staat den Menschenrechtsschutz nicht mehr gewährleisten, wird dieser den Vereinten Nationen übertragen.
Dennoch sind militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte aufgrund des „Responsibility to Protect“ Prinzips an zahlreiche Verpflichtung gebunden. Militärische Interventionen werden nur dann als zulässig erachtet, wenn mögliche zivile Sanktionsinstrumente nicht mehr greifen oder bereits „ausgeschöpft“ sind. Des weiteren müssen geplante Interventionen Erfolgsaussichten aufweisen und bezüglich der Ausführung bedarf es klarer Regelungen. So müssen die dafür benötigten Ressourcen bereitstehen und die intervenierenden Akteure sollten über ein politisches Mandat verfügen. Bedenkt man die aktuelle Libyen Intervention und die festgefahrene Situation der Konfliktparteien im Sommer 2011, so waren die Kriterien auf Erfolgsaussichten bei weitem nicht erfüllt. Auch wenn der „Responsibility to Protect“ Bericht „vermeintliche“ Kriterien für Interventionen festlegt, bleibt das Recht auf Anwendung von humanitären Interventionen den partikularen Interessen der „Permanent Five“ im Sicherheitsrat überlassen.
Dieser Zustand, sowie das Spannungsfeld zwischen staatlicher Souveränität und dem Schutz der Menschenrechte wird in der Literatur auch als eine Art „Dilemma“ beschrieben.
Konstruktivismus- Legitimationsstrategien im Diskurs
Mit einem etwas unkonventionellen Zugang zu diesem Problemfeld begreift der Konstruktivismus diese beiden Konzepte nicht per se als „konträr“. Wie bei der Herausbildung der Menschenrechte oben bereits beschrieben, versteht sich der Konstruktivismus als ein Theorieansatz der kulturelle Normen in das Zentrum der Analyse rückt. Die beteiligten Akteure stimmen ihre Handlungsweisen auf die Normen und Werte ab, die anhand von Diskursen ständig produziert bzw. reproduziert werden.33 Somit sind sie nicht einzig und allein ihren eigenen Interessen verpflichtet, sondern sie versuchen ihr Handeln innerhalb des Diskurses zu begründen. Dieser Diskurs wird von unzähligen Akteuren mitgestaltet und es wird zugleich festgelegt, was als erstrebenswert oder als verwerflich gilt. Dabei spielen nicht mehr nur die Nationalstaaten eine entscheidende Rolle, sondern Akteure wie beispielsweise Medien gestalten den Diskurs entscheidend mit.
Verbindet man nun diese theoretischen Überlegungen mit dem Spannungsfeld der humanitären Intervention und dem Konzept der staatlichen Souveränität, so könnte man sagen, dass es sich nicht primär um einen „direkten“ Kampf, um die Implementierung eines dieser beiden Konzepte handelt. Das Nullsummenspiel, entweder staatliche Souveränität oder Menschenrechtsschutz, würde so nicht stattfinden. Vielmehr geht es um die Durchsetzung von diskursiven Praktiken. Eine zentrale Rolle spielen hier nicht mehr die Interessen der Nationalstaaten, sondern es treten auch andere Akteure, wie beispielsweise Medien in den Diskurs mit ein. Aus konstruktivistischer Sichtweise sind die Nationalstaaten daher nicht mehr die alleinigen Akteure eines Konfliktes. Zentraler Untersuchungsrahmen ist der von den unterschiedlichen Akteuren geführte Diskurs. Dabei lassen sich zugleich Strategien der teilnehmenden Akteure erkennen, um eine Deutungshoheit im Diskurs zu erlangen.
Die dänische Politologin Helle Malmvig setzt sich mit der Rolle von humanitären Interventionen auseinander und analysiert anhand des vorherrschenden Interventionsdiskurses, diese diskursiven Strategien. In der konventionellen Auffassung verletzt eine Intervention die staatliche Souveränität und schützt das Konzept Menschenrechte. Helle Malmvig, die von einem poststrukturalistischen Standpunkt aus argumentiert, stellt sich gegen diese Auffassung und geht gleichzeitig davon aus, dass Interventionen nicht nur staatliche Souveränität verletzen, sondern diese sogar verstärken bzw. wie sie argumentiert, Interventionen staatliche Souveränität reproduzieren.
Dabei bezieht sie sich, wie sie es bezeichnet, auf drei diskursive Argumentationsstrategien, nämlich Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit und Verletzung der Menschenrechte, die zentrale Schlüsselrollen im Prozess der Legitimation von Interventionen einnehmen und zugleich Bedeutungen für die staatliche als auch menschliche Souveränität schaffen.
Malmvig widerspricht der vorherrschenden Ansicht, dass sich die staatliche Souveränität in einem Umbruch befindet. „[R]ather than eroding state sovereignty current legitimations of intervention are reproducing the existence and importance of state sovereignty“. Die Politologin bezieht sich hierbei auf Foucault, indem die drei Legitimationsstrategien, Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit und Verletzung der Menschenrechte als eine diskursive Praxis fungieren und somit auch als performativ zu bezeichnen sind. Von dieser poststrukturalistischen Sichtweise ausgehend, stehen daher nach Malmvig, staatliche Souveränität und humanitäre Souveränität in keinem unlösbaren Konflikt zueinander. Das von ihr bezeichnete Nullsummenspiel, welches in der konventionellen Sichtweise vorherrschend ist, wird durch den poststrukturalistischen Zugang aufgehoben.
Im Diskurs, der nach Malmvig nicht nur von einzelnen Theoretikern der Internationalen Beziehungen mitgestaltet wird, sondern auch von Seiten der Politik und Medien beeinflusst wird, stehen die beiden Begriffe Intervention und staatliche Souveränität in einem konträren Verhältnis zueinander. Der Begriff der Intervention ist jedoch abgeleitet vom Begriff der Souveränität, da man im Sprechen über Intervention bereits das Konzept der Souveränität gedanklich verinnerlicht hat.
Malmvig betont weiters, dass der staatlichen Souveränität eine gewisse Bedeutung zugeschrieben wird. Dies kennzeichnet sich dadurch, dass man dem Konzept staatlicher Souveränität die Fähigkeit beimisst, für Ordnung auf nationalstaatlicher als auch auf internationaler Ebene zu sorgen. Im Gegensatz dazu wird Intervention als eine Gefahr für diese Ordnung angesehen, da es das Konzept der staatlichen Unabhängigkeit in Frage stellt und somit auch eine Gefahr für die Sicherheit darstellt. Dadurch wird Souveränität als etwas „normales“ und Intervention als etwas gegen die Norm der Internationalen Politik verstoßendes repräsentiert, was in weiterer Folge eine Legitimation von Intervention erforderlich macht. Durch den Akt der Legitimation geht man nach Malmvig jedoch davon aus, dass staatliche Souveränität etwas „Gutes“ ist und reproduziert somit das Konzept. Nach Malmvig bilden Identitäten die Grundlage der diskursiven Strategien. Diese Identitäten sind durch einen unangefochtenen Status der Souveränität des Einzelnen gekennzeichnet. Wird diese Souveränität verletzt, werden nicht nur die Identitäten der Betroffenen in Frage gestellt, sondern auch eine universelle Idee steht am Spiel.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Intervention, staatliche Souveränität nicht untergräbt. Im Gegensatz zur konventionellen Vorstellung, die auf Grundlage eines Nullsummenspiels zwischen staatlicher und humanitärer Souveränität aufbaut, argumentiert die Autorin, dass mit einer Intervention, diese beiden Ideen zugleich gestärkt und reproduziert werden. Die Wissenschaft sollte sich daher nicht mit der Unvereinbarkeit dieser Vorstellungen auseinandersetzen, sondern vielmehr sich über die Rolle dieser beiden Souveränitätskonzepte im vorherrschenden Diskurs bewusst werden.
Was bedeutet dies nun für den Libyenkonflikt? Führt man Malmvig´s Überlegungen weiter aus, so sollte in einer Analyse dieses Konfliktes, die zentralen diskursiven Strategien der beteiligten Akteure analysiert werden. Dies bedeutet, dass man sich zuerst klar darüber werden muss, wer die Gestalter dieses Diskurses sind. Eine bedeutende Rolle wird hier sicherlich den Medien zu Teil, da sie über eine mächtiges Instrumentarium verfügen mit dem sie den Diskurs mitgestalten. Aufgrund des Sturzes des Diktators Muammar al- Gadhafi und dem Sieg der Rebellen wird die militärische Libyen Intervention auch Einfluss auf Legitimationsstrategien für zukünftige Militäroperationen nehmen. Es ist daher unerlässlich den Diskurs kritisch zu hinterfragen und die diskursiven Praktiken der Akteure zu beleuchten mit denen sie militärische Operationen rechtfertigen. Der Konstruktivismus bietet für diese Art von Analyse einen passenden theoretischen Rahmen.
Bezüglich der Nato Intervention in Libyen muss abschließend festgehalten werden, dass sich der „vermeintliche“ Erfolg erst dann abzeichnen wird, wenn sich in Libyen nicht nur ein reiner Regimewechsel abzeichnet, sondern sich demokratische Strukturen entwickeln. Dieser Prozess muss allerdings vom libyschen Volks ausgehen, alles andere wäre eine Aufoktroyierung von aussen und zum Scheitern verurteilt.
Literaturverzeichnis
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